Digitalisierung der Logistik in der tschechischen Niederlassung von Bosch als Vorbild für die Zentrale in Deutschland

Tereza Čechová Aimtec
17. 5. 2022 | 8 Minuten Lesen

Physische Kanban-Karten für die Strukturierung der Produktion eliminieren und Stunden, Wochen gar Monate Zeit des mit ihnen arbeitenden Personals einsparen. Diese Grundidee war der Auslöser für die Hejunka-Digitalisierung im Werk der Division Automobiltechnik der Firma Bosch in České Budějovice. Das von den eigenen Entwicklern aufgestellte System stieß auch in der deutschen Firmenzentrale auf großes Interesse. Im Rahmen der TAL 2021 in Pilsen wurde es vom Chef des Teams Innovation in der Logistik Petr Chaluš und Projektmanager Jan Čermák vorgestellt.

Der Begriff Heijunka stammt aus dem Japanischen und wird in der Industrie für eine Methode der Nivellierung der Produktion verwendet. Ihr Zweck besteht in der Harmonisierung des Produktionsflusses und Vermeidung von Warteschlangen. Verwendete Instrumente sind große Tafeln und sog. Kanban-Karten (Kanban ist Japanisch und bedeutet „Karte“ oder „Tafel“).

Wie Jan Čermák einleitend feststellte, stand eine solche große Tafel einst an jeder Fertigungsstraße der Firma Bosch. „Sie hatte zwei Teile: im oberen Bereich befanden sich Auflistungen, der Produktionsplan, ein Pareto-Diagramm, Statistiken und ein Kugelschreiber. Im unteren für die Produktionsplanung bestimmten Bereich steckten physische Karten für Fertigerzeugnisse, hunderte schmutzige Kanban-Karten. Ich selbst war als Produktionsplaner tätig, und wenn mal ein Gefühl von Langeweile aufgekommen wäre, hätte ich zu einer dieser Tafeln hingehen und mich minutenlang mit den Karten beschäftigten können“, schilderte er die Arbeit nach dem alten System. Bosch wollte dieses ganze „Physische“ loswerden.

Live im Werk

„Jetzt befinden wir uns an einer konkreten Fertigungsstraße in unserem Werk“, überraschte Jan Čermák mit einem Sprung ins Virtuelle. Auf der Leinwand hinter ihm tauchte ein sog. Nivellierungsplan für ca. 14 Tage auf. Die Anwesenden konnten den ursprünglichen Plan und gleichzeitig aktuelle Daten der Fertigungsstraßen sehen und gut vergleichen, wie es der Firma gelang, den Plan zu erfüllen.

Das Herzstück der Anwendung ist nach Aussage von Jan Čermák der tägliche Produktionsplan, bei dem bereits mit einzelnen digitalen Kanban-Karten gearbeitet wird. Verfolgt werden kann die Produktionssequenz bzw. der Ablauf an einzelnen Tagen der betreffenden Periode. Das System ist transparent, d. h. anonyme Eingriffe ohne sofortige Identifizierung des betreffenden Subjekts sind ausgeschlossen.

Jan Čermák kam für den Zweck des Vortrags auch eine Tatsache gelegen, die seinen Kollegen in der Produktion mit Sicherheit keine Freude bereitet hat: Auf der Tafel leuchteten zwei Posten rot auf. „Hervorragend zur Veranschaulichung. Das bedeutet, dass wir diese beiden Posten heute nicht mehr produzieren“, kommentierte er sichtlich vergnügt. Das System überwacht nämlich alles in Echtzeit, und sobald irgendetwas unerwartet ins Stocken gerät, beispielsweise ein Arbeiter nicht an seinem Platz steht, reagiert das System prompt und berücksichtigt die neue Tatsache in seinen Berechnungen der Produktionszyklen. „Wenn wir auf diese Weise erfahren, dass etwas Wichtiges nicht gefertigt wird, können wir die Pläne rechtzeitig ändern“, betont Jan Čermák.

Abweichungen werten wir nicht nach unserem Erinnerungsvermögen oder anhand von Zetteln aus, sondern auf Grundlage der verfügbaren Daten.

Jan Čermák, Leiter Logistikprojekte, Robert Bosch

Daten ersetzen Erinnerungsvermögen und Zettel

Nicht alles, was mit Digitalisierung zu tun hat, ist „sexy“, leitete Jan Čermák den Teil seines Vortrags betreffend das Management von Produktionsplanabweichungen ein. „Wir wünschen uns Touchscreens und bunte Bildchen, vergessen aber oft, dass Digitalisierung auch eine andere Funktion hat“, erinnerte er. Gerade das Abweichungsmanagement zählt zu den weniger attraktiven Bestandteilen des in České Budějovice genutzten Systems. Dafür ist es umso wichtiger.

Dieses Instrument ermöglicht dem Unternehmen herauszufinden, warum Erzeugnisse nicht plankonform gefertigt wurden. Einzelne „Defaults“ werden aufgelistet und warten, dass sie der zuständige Mitarbeiter beurteilt. Dieser verfügt über entsprechende Daten der Fertigungsstraße und alle relevanten Informationen über Wartezeiten. „Abweichungen werten wir nicht nach unserem Erinnerungsvermögen oder anhand von Zetteln aus, sondern auf Grundlage der verfügbaren Daten“, schildert er den Unterschied zu ähnlichen Prozessen in der Vergangenheit.

Die Werksleitung kann einzelne Prozesse am „Dashboard“ verfolgen, wo sich die Manager ganz einfach nach Farben orientieren, die den Prozessstand anzeigen. „Bei Grün muss man sich nicht kümmern, bei Rot heißt es aktiv werden und Details in Erfahrung bringen. Das ist einfach, übersichtlich und transparent,“ erläuterte Petr Chaluš, der bei dem Vortrag das Management des Werks in České Budějovice vertrat.

Änderungen müssen propagiert werden

Mit Einführung des Systems hatte man bei Bosch vor allem die Befürchtung, dass es sich nicht für alle 80 Fertigungsstraßen einsetzen lässt und nicht alle Bediener in der Lage und bereits sein werden, es anzunehmen. Also machten sich die Entwickler zu den Betriebsmitarbeitern auf, um sie mit ihrem Vorhaben bekannt zu machen. Das sorgte vorab für willkommenes Feedback und das notwendige Vertrauen. „Als wir dann mit der Botschaft kamen, dass wir Standards abschaffen, mit denen sie fünfzehn Jahre lang gearbeitet haben, sagten sie, ja, wir warten schon auf euch. Manche Fertigungsabschnitte setzten noch eins drauf und wollten schon eher zum neuen System übergehen, was fabelhaft für uns war“, schilderte Jan Čermák die Vorteile der rechtzeitigen Aufklärung.

Verpackungen im Pilotbetrieb

Das technisch komplizierte Element der digitalisierten Lieferkette im Bosch-Werk in České Budějovice ist das System der elektronischen Bestellung von Verpackungen. „Wenn wir in Einwegverpackungen abpacken, haben wir zentrale Supermärkte, von denen die Einweg-Sets ausgehend von physischen Kanban-Bestellungen verpackt und an den Fertigungsstraßen bereitgestellt werden. Hier ist von Tausenden solcher Bestellungen pro Monat die Rede“, beschrieb Jan Čermák das bisherige Funktionieren dieses Bereichs. „Dann haben wir uns aber gesagt: Mit E-Heijunka wissen wir doch, wann welche Karte an die Reihe kommt. Wir wissen, wo ein Fehler auftrat, wenn etwas ins Stocken gerät. Wir sind in der Lage, aus 80 Fertigungsstraßen eine Reihe zu aggregieren“, erklärte er die Entstehung des neuen Subsystems.

In einer Halle mit zwölf Fertigungsstraßen lief also der Pilotbetrieb an. „Die Anforderungen an diese Sets treffen jetzt automatisch in der Arbeitsstätte ein, wo sie ihre digitale Warteschlange haben, man weiß, wer sie bestellt hat, wann was zu tun ist, um rechtzeitig fertig zu sein, sie haben Überblick über die Kapazität, sogar fehlende Komponenten für die nächsten vier Stunden werden kontrolliert, so dass wir ein Abschalten der Fertigungsstraße allein wegen einer fehlenden Palette aus dem Lager vermeiden“, beschrieb Čermák die klaren Vorteile der Innovation.

Petr Chaluš erinnerte anschließend daran, dass ein ähnliches Projekt auch für Mehrwegverpackungen im externen Lager geplant ist. Ein weiteres beabsichtigtes Projekt sind „Just-in-time“-Lieferungen von Rohmaterial, die heute per Scanner bzw. elektronisch per Kanban bestellt werden. In Zukunft soll das automatisch über Digital Heijunka geschehen.

Wir haben das System in Angriff genommen, weil uns die Zentrale angesichts der Komplexität des Produktionsflusses keine vernünftige Lösung bieten konnte. Jetzt sprechen wir mit ihr darüber, dass dieses Projekt auch in anderen Bosch-Werken Standard werden könnte.

Petr Chaluš, Gruppenleiter für Innovationen in der Logistik, Robert Bosch

Unerwarteter Effekt

Die Vorteile sind quantifizierbar und nicht quantifizierbar. Der wesentlichste unter den nicht quantifizierbaren besteht nach Auffassung von Jan Čermák in der Tatsache, dass Bosch das Projekt E-Heijunka im September 2019 abgeschlossen hat, d. h. wenige Monate, bevor die Corona-Pandemie Tschechien mit voller Wucht traf. Alle Prozesse, die bis dahin die Anwesenheit menschlicher Arbeitskräfte vor Ort verlangten, konnten mit einem Mal aus der Ferne erledigt werden.

Zu den quantifizierbaren gehört die Zeit- und Energieeinsparung bei Mitarbeitern in der Logistik und Produktion. „Wir sind in der Lage, rund 6 Prozent der Kapazität des Logistikplaners und 5 Prozent der Kapazität des Schichtleiters in der Produktion einzusparen“, erklärte Jan Čermák. Das bedeutet nicht automatisch Personaleinsparung, sondern vielmehr eine Umlenkung der Kapazität dieser Mitarbeiter hin zu Aktivitäten mit höherer Wertschöpfung. Allein diese Einsparungen gehen mit einer Rentabilität der Investition in das Projekt bereits nach vier Monaten einher.

Das Beste hob sich Petr Chaluš für den Schluss auf: „Wir haben das System in Angriff genommen, weil uns die Zentrale angesichts der Komplexität des Produktionsflusses keine vernünftige Lösung bieten konnte. Jetzt sprechen wir mit ihr darüber, dass dieses Projekt auch in anderen Bosch-Werken Standard werden könnte.“

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